Weihnachtsengel inkognito - Leseprobe

Die folgende Kurzgeschichte ist eine Leseprobe aus meinem Weihnachtsbuch "Weihnachtsengel inkognito".

Weihnachtsengel inkognito
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Diese Geschichte ist als Beitrag im 
Autoren-Adventskalender 2019 erschienen.
 

https://www.autoren-adventskalender.de/


Weihnachtsengel inkognito

Ich erinnere mich noch so genau an diesen Heiligen Abend, als wäre er gestern gewesen. Ich war spät dran. Die Nacht war klar und klirrte vor Kälte. Am Nachmittag hatte es wieder geschneit und mit meinen viel zu großen Stiefeln stapfte ich durch die weiße Pracht. Die Straßen lagen um diese Zeit völlig verlassen, alles saß in der warmen Stube.
Genau aus einer solchen kam auch ich gerade, hatte die restlichen Geschenke verteilt, in glückliche Kinderaugen geschaut und eine Überdosis an Weihnachtsgedichten und -liedern über mich ergehen lassen.
Jetzt freute ich mich eigentlich nur noch auf etwas Ess- und Trinkbares. Doch eine Aufgabe gab es noch zu erledigen, bevor ich mich um mein eigenes Wohlbefinden kümmern konnte.
In Vorfreude auf ein großes Glas Weihnachtspunsch beschleunigte ich meine Schritte und bog um die Ecke.
Und da sah ich sie. In ihrem langen dunklen Mantel, den Kragen hochgeschlagen und die Mütze tief ins Gesicht gezogen, war nicht viel mehr von ihr zu erkennen, als die langen blonden Locken. Doch ihr Gang und die Haltung drückten eine Verlorenheit aus, die mir augenblicklich ans Herz ging. Sie bewegte sich nicht so, als hätte sie irgendein Ziel. Eher zögernd, ganz in ihre Gedanken versunken, machte sie Schritt für Schritt.
Mich entdeckte sie erst, als ich schon fast vor ihr stand. Erschrocken fuhr sie zusammen, beruhigte sich aber schnell, als sie mich „erkannte“.
Wer hatte schon Angst vorm Weihnachtsmann? Vielleicht einmal abgesehen von einigen Kindern, die vom schlechten Gewissen geplagt wurden.
Aber sie war schon lange kein Kind mehr und ihre dunklen Augen in dem blassen, schmalen Gesicht verrieten nichts außer unendlich tiefer Traurigkeit.
Für einen Moment standen wir uns hilflos gegenüber. Doch dann wurde ich mir meiner Aufgabe wieder bewusst, zu der es wohl auch gehörte, sich in der Heiligen Nacht um einsame Menschenkinder zu kümmern, selbst dann, wenn diese schon mindestens Mitte 20 waren.
„Ho, ho, ho“, rief ich also bemüht heiter, „was treibt Dich denn so spät in diese kalte Nacht?“
Für eine Sekunde meinte ich, ein klitzekleines Lächeln in ihren Augen zu sehen, welches jedoch genauso schnell wieder verschwand, wie es erschienen war.
„Ich bin geflüchtet“, murmelte sie und schien mich ganz selbstverständlich in meiner Rolle als gütigen Alten zu akzeptieren, dem man bedenkenlos sein Herz ausschütten konnte.
Ich verkniff mir ein erneutes ho, ho, ho, und fragte stattdessen nur: „Und wovor?“
„Vor der weihnachtlich dekorierten Stube, vor der Einsamkeit, vor mir selber“, und plötzlich schluchzte sie: „Er ist nicht gekommen. Hat abgesagt. Heute Morgen. Einfach so.“
Und eh ich mich versah, lag dieser traurige, blonde Engel in meinen Armen und weinte herzzerreißend.
Wie wünschte ich mir in diesem Moment, dass sie in mir nicht nur den Weihnachtsmann, sondern den Mann hinter der Fassade sah, der ihr nur zu gerne Freund und Beschützer sein würde. Doch gleichzeitig war mir bewusst, dass nur meine Verkleidung der Grund für ihr Vertrauen war. Und, ihre Verzweiflung.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, löste sie sich aus meinem Arm. „Entschuldigung,“ hauchte sie verlegen. „Ich bin wirklich zu alt, um an den Weihnachtsmann zu glauben. Für einen Moment …“ Irritiert blickte sie mir ins Gesicht oder versuchte zumindest etwas von diesem hinter meinem weißen Wattebart zu erspähen. „Du musst mich für ziemlich dumm halten. Tut mir leid, wirklich“, fuhr sie dann, ein wenig selbstsicherer, fort und machte Anstalten weiter zu gehen.
Blitzschnell überlegte ich, wie ich sie von diesem Vorhaben abhalten konnte. Wer weiß, wer ihr als Nächster in dieser Nacht über den Weg laufen würde, sicherlich nicht Rudi, das Rentier. Erstaunt bemerkte ich, dass ich mir Sorgen um diese Fremde machte.
„Vielleicht bist Du ja zu alt, um an den Weihnachtsmann zu glauben, aber als Weihnachtsengel bist Du genau richtig“, versuchte ich es wieder mit Humor.
Misstrauisch schaute sie mich an und wich einen Schritt zurück.
„Ich meine“, fuhr ich rasch fort und überspielte meine Verlegenheit, „Du könntest mir bei der Bescherung helfen. Ich bin spät dran und zu zweit würde es schneller gehen.“
Diese Augen werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Dunkel und tief, sodass ich meinte, jeden Moment darin zu versinken. Und ihre Gefühle ließen sich in ihnen ablesen, wie in einem offenen Buch. Ob sie sich wohl dessen bewusst war?
„Ja, warum eigentlich nicht“, antwortete sie zu meinem Erstaunen. „Ich habe ja sowieso nichts Besseres vor.“ Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.
Bevor sie wieder zu weinen beginnen konnte, nahm ich, mit der Selbstsicherheit eines Weihnachtsmannes, ihren Arm und plauderte munter von meinen abendlichen Erlebnissen. So große Mühe ich mir auch gab, zum Lachen brachte ich sie nicht, aber zumindest spürte ich, wie sie sich ein wenig entspannte.
Es war nicht allzu weit bis zum Vereinshaus. An der Tür wurde ich bereits ungeduldig von der Vorsitzenden, Frau Röhrig, erwartet. Überrascht musterte sie die blasse Frau neben mir, nickte ihr dann aber zu und meinte:
„Prima, dass Sie unserem Weihnachtsmann zur Seite stehen.“
„Mein Weihnachtsengel“, sagte ich scherzend und an dem Blick, den mir Frau Röhrig daraufhin zuwarf, konnte ich erkennen, dass sie die Situation ohne ein weiteres Wort erfasst hatte.
Immerhin sah meine Begleiterin in Wirklichkeit auch viel weniger wie ein Weihnachtsengel, als vielmehr wie ein verirrtes Waisenkind aus. Aber wie auch immer, auch dann war sie hier goldrichtig. Denn in dem Raum, den wir kurz darauf betraten, saßen ungefähr 30 Leute, die alle eines gemeinsam hatten, sie waren allein.
Da waren einige Rentner, deren Angehörige selbst an einem Abend wie diesen zu beschäftigt für einen Besuch waren, einige Männer und Frauen verschiedener Altersgruppen, die nach Scheidung oder Tod wieder allein lebten, eine Mutter mit drei kleinen Kindern, die vor ihrem Partner und seinen Wutausbrüchen geflüchtet war und einige angeblich überzeugte Singles, die heute alles andere als überzeugt waren.
Vor fünf Jahren hatte alles damit begonnen, dass Frau Röhrig, damals gerade frisch geschieden, zum ersten Mal ein Weihnachtsfest allein verbringen musste und sich daraufhin geschworen hatte, dass ihr das nie wieder passieren würde. Also hatte sie kurz entschlossen eine Annonce aufgegeben und Gleichgesinnte gesucht. Menschen, die wie sie allein waren oder Leute, die einsamen Seelen helfen wollten. Viele waren ihrer Idee gefolgt, sie hatten einen Verein gegründet und organisierten seitdem diesen gemeinsamen Heiligen Abend für alle die, die sich einsam fühlten. Und mit jedem Jahr wurden es mehr.
Und ich, der Weihnachtsmann, war von Anfang an dabei. Wo also hätte mein einsamer Engel besser aufgehoben sein sollen, als hier?
Frau Röhrig schleppte den Sack mit den Geschenken heran und alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf uns.
Ich konnte spüren, wie verlegen das meine Begleiterin werden lies, die sich rasch ihre Mütze vom Kopf zog und ihre Haare ordnete.
Mit ihren langen, blonden Locken kam sie jetzt ihrer Berufung als Weihnachtsengel schon viel näher.
Die Bescherung begann und wieder einmal fragte ich mich, wie Frau Röhrig es schaffte, für jeden Gast ein passendes, kleines Geschenk zu besorgen.
Mein schönstes Geschenk an diesem Abend war allerdings, dass mein Engel mir jedes Päckchen zureichte. Ich las dann den Namen vor und wurde erneut mit Gedichten und Liedern bedacht, wenn hier auch begleitet von übermütigem Gelächter und Gekichere.
Als alle glücklich beschenkt waren, zauberte ich noch eine Überraschung für die Chefin aus meinem Mantel, ein kleines Büchlein eines bekannten brasilianischen Schriftstellers, für den meines Wissens nach, ihr Herz ganz besonders schlug. Und wirklich, Frau Röhrig drückte mich voller Freude an ihre Brust und mir wurde in meinem Kostüm noch wärmer.
Dann setzten wir uns zu den anderen an die lange, festlich geschmückte Tafel. Der Engel an meiner Seite hatte endlich den dicken Mantel abgelegt, nur ich blieb standesgemäß im Weihnachtsmannoutfit. Was muss, das muss.
„Schön ist es hier“, flüsterte sie mir zu und schaute sich mit großen Augen im Raum um. Für einen Moment sah sie jetzt tatsächlich aus, wie ein Kind zu Weihnachten.
Frau Röhrig und ihre Freundinnen hatten auch weder Kosten noch Mühen gescheut und wieder ihr ganzes Herz in die Vorbereitung dieses Abends gelegt. Eine große Tanne stand in der Mitte des Raumes, prachtvoll geschmückt in Lila und Silber. Von einem CD-Player in der Fensterbank erklang leise Weihnachtsmusik und von unseren Tellern duftete das Hühnerfrikassee, dass mir das Wasser nur so im Munde zusammen lief. Das Essen desselben gestaltete sich allerdings aufgrund meines langen Bartes etwas schwieriger.
Für einen Moment war ich versucht, doch einfach meine Verkleidung abzulegen und der zu sein, der ich bin. Aber wie hätte ich den Kindern im Raum erklären sollen, dass der Weihnachtsmann plötzlich nur noch Jeans und T-Shirt trug und zudem auch noch seinen Bart verloren hatte?
So harrte ich aus, schwitzte vor mich hin und war doch gleichzeitig ganz eigenartig glücklich. Lag das an diesem Abend? Oder an dem blonden Wesen neben mir?
Sie sprach die ganze Zeit nicht viel, aber schon allein ihre Anwesenheit tat mir so gut, dass ich mir wünschte, die Zeit würde einfach stehen bleiben. Aber wann hat sich die Zeit schon jemals nach unseren Wünschen gerichtet?
Zum Abschied, bevor sie ins Taxi stieg, drückte sie mir einen zarten Kuss auf die Wange, oder vielmehr in den Bart, und flüsterte: „Danke. Jetzt weiß ich, dass es ihn wirklich gibt, den Weihnachtsmann.“
Dann war sie fort. Doch dieses warme Gefühl in meinem Herzen blieb.

* * *

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Ich wünsche Ihnen/ Euch eine schöne
und besinnliche Weihnachtszeit!