Die folgende Kurzgeschichte stammt aus meinem Weihnachtsbuch "Weihnachtsengel inkognito - Weihnachtliche Geschichten rund ums Fest" und ist ein Beitrag zum Autoren-Adventskalender 2020.
Die kleine Kirche
Einsam stand die kleine Kirche auf der verschneiten Wiese. Ihr schiefes Dach
bog sich unter den Massen des Schnees, aus ihrer Fassade bröckelten die Steine
und die marode Holztür quietschte im eisigen Wind.
Die kleine Kirche wusste nicht, weshalb sie von aller Welt verlassen worden
war. Sicher, sie war alt und vielleicht auch nicht die schönste und größte,
aber waren das denn Gründe, sie allein zu lassen? Früher waren doch die
Menschen in ihr ein und aus gegangen. Sie hatten Feste gefeiert, beieinander
gesessen oder in Zeiten der Trauer Zuflucht gesucht. Doch eines Tages waren sie
gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Seit diesem Tag war es still geworden.
Und einsam! Nur ein schwarzer Kater fand manchmal durch ein zerbrochenes
Fenster noch seinen Weg hier herein. Aber der hielt nur Ausschau nach Mäusen
und nahm ansonsten keinerlei Notiz von der kleinen Kirche.
Spaziergänger, die von Zeit zu Zeit stehen blieben, hielten sich stets in
sicherem Abstand. „Sie ist verwunschen“, raunten die Alten, „da spukt’s
bestimmt“, meinten die Kinder, „wir sollten sie abreißen“, sagte ein Mann, „ein
Schandfleck“, schimpften einige Frauen.
Diese Worte machten die kleine Kirche traurig. Warum redeten diese Menschen nur
so? Wussten sie denn nichts von ihrer Seele? Ahnten sie nicht, dass sich auch
eine kleine Kirche nach Gesellschaft, Freude und Leben sehnte?
Am einsamsten aber fühlte sich die kleine Kirche zur Weihnachtszeit, dann wenn
die Häuser in der Umgebung hell erleuchtet vor sich hin strahlten und nur ihre
eigenen Fenster dunkel und kalt blieben.
Als die kleine Kirche schon beinahe jede Hoffnung aufgegeben hatte, kam eines
Morgens ein Menschenpaar des Wegs. Die jungen Leute gingen nicht wie die
anderen Spaziergänger vorbei, sondern kamen direkt auf die kleine Kirche zu und
blieben vor ihrem Eingang stehen.
Die kleine Kirche klapperte freudig mit ihrer schiefen Eingangstür. Kam etwa
endlich wieder Besuch?
Und tatsächlich, die junge Frau zog einen großen Schlüssel aus ihrer Tasche und
versuchte, damit die Tür zu öffnen. Ihr Begleiter, ein großer Mann, schaute
indessen prüfend an der Fassade empor.
„Deine Oma hat recht, sie ist schon ziemlich alt“, meinte er skeptisch.
Ängstlich vernahm die kleine Kirche diesen Satz und sperrte sich, ihre Tür zu
öffnen. Doch als die Frau fast zärtlich über das abgeblätterte Türblatt strich,
konnte sie nicht mehr anders und gab bereitwillig nach.
Die beiden traten ein und schlenderten langsam durch den Raum. Die kleine
Kirche hielt vor Aufregung den Atem an.
Vor dem alten Altar blieb die junge Frau stehen.
„Ja, sie ist alt. Aber sieh doch nur, sie ist auch etwas ganz Besonderes“,
meinte sie und schaute sich verträumt um.
Die kleine Kirche hörte es und seufzte vor Freude, dass es im Gebälk nur so knirschte.
„Hör nur, sie spricht mit uns“, freute sich die Frau und ihr Freund meinte
schmunzelnd:
„Kein Wunder. Dein Anblick erweckt eben selbst eine alte Kirche wieder zum
Leben.“
Einige Jahre später war die alte Kirche nicht mehr wiederzuerkennen. Sie trug
jetzt ein schickes rotes Dach und in der restaurierten Fassade fügte sich ein
Stein auf den anderen.
Die Zeiten der Einsamkeit gehörten der Vergangenheit an. Das Leben war in ihre
Mauern zurückgekehrt. Die beiden jungen Leute hatten bald andere Menschen mitgebracht
und alle zusammen hatten dafür gesorgt, dass die kleine Kirche in neuem Glanz
erstrahlte.
Am schönsten aber war es zur
Weihnachtszeit. Dann fanden viele Menschen in der kleinen Kirche Platz. Sie
freuten sich an der Wärme und Behaglichkeit, und sie brachten Lieder und
Geschichten mit. Besonders stolz war die kleine Kirche auf all die unzähligen
Lichter und Kerzen, die dann in ihren Fenstern leuchteten und die selbst die
modernen Nachbarhäuser zum Staunen brachten.
Die kleine Kirche war glücklich! Endlich sorgten und kümmerten sich wieder
Menschen um sie. Menschen, die ihren wahren Wert erkannt und ihr zu neuem Leben
verholfen hatten.
Für die Spaziergänger allerdings, die nach wie vor neugierig herüberschauten,
jetzt aber „was für ein Prachtstück“ riefen, hatte die kleine Kirche keinen
einzigen Blick mehr übrig.